Recht und Unrecht: Der Vorsatz

BGH, Urteil vom 26. April 1960 – 5 StR 77/60 – „Jauchegrubenfall“

Anm. d. Autors: aus dem Anstoß 05/2022; BGH = Bundesgerichtshof; StGB = Strafgesetzbuch

Einleitung: Recht und Unrecht – eine Reihe

Dieser Artikel soll Aufschlag für eine Reihe von Artikeln sein, der ich den Namen „Recht und Unrecht“ gegeben habe. Mein Ziel ist es, juristische Problemstellungen und Arbeitsweisen leicht verdaulich aufzubereiten und euch so einen Einblick in die Arbeitsweise der Gerichte und der Justiz zu geben. In Zukunft soll der eine oder die andere auch etwas für die „linke Praxis“ mitnehmen können. Die Idee für diese Reihe hatte Birgit, die mir vorgeschlagen hatte, aktuelle Entscheidungen, die für die Anstoßleser_innen interessant sein könnten, zusammenzufassen und hier wiederzugeben. Ich möchte mit diesem ersten Artikel das genaue Gegenteil tun und anstelle einer aktuellen Entscheidung eine von 1960 vorstellen, die (wegen der Urteilsfindung) vielleicht nicht weniger interessant ist.

Der Tatbestand (unappetitlich)

Die Tat zu beschreiben, ist hier nicht kompliziert. Es geht um eine Frau, die eine andere Frau würgte und, um sie am Schreien zu hindern, ihr Sand in den Mund stopfte. Nach den Feststellungen des Tatgerichtes – im Falle von Mord und Totschlag ist das das Landgericht als sogenanntes Schwurgericht – hat sie dies mit bedingtem Tötungsvorsatz getan. Danach versenkte sie zur Verschleierung der Tat die vermeintlich tote Frau in einer Jauchegrube. Wie würdet ihr, liebe Leser_innen, die Angeklagte verurteilen?

Das Urteil (ein wenig kompliziert)

„Ein vollendeter Mord oder Totschlag kann auch dann vorliegen, wenn der Täter das Opfer mit bedingtem Tötungsvorsatz angreift, später die vermeintliche Leiche beseitigt und erst dadurch den Tod verursacht, ohne jetzt noch an diese Möglichkeit zu denken.“

Leitsatz des Urteils

Das Schwurgericht hatte die Täterin wegen Totschlags gemäß § 212 StGB zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Dagegen erhobt diese Revision zum Bundesgerichtshof. Der hat die Revision jedoch verworfen, so dass der Schuldspruch rechtskräftig wurde.

Die Gründe (fein aufgedröselt)

Wo liegt hier nun das Problem? Nach einfachster Betrachtung ist ein Mensch von einem anderen (bedingt) vorsätzlich getötet worden. Doch gemäß § 15 StGB ist vorsätzliches Handeln nur strafbar, wenn nicht das Gesetz fahrlässiges Handeln ausdrücklich mit Strafe bedroht. Der Vorsatz muss also ermittelt werden, wenn wegen Totschlages verurteilt werden soll. In diesem Fall dachte die Täterin jedoch, dass ihr Opfer bereits durch das „Sand-in-den-Mund-stopfen“ gestorben war. Tatsächlich war das Opfer jedoch nur ohnmächtig und verstarb erst in der Jauchegrube. Beim Versenken in dieser hatte aber die Täterin keinen Vorsatz zur Tötung mehr, da sie das Opfer ja bereits tot glaubte. Betrachtet man diese Handlungsabschnitte getrennt und unabhängig voneinander, dann hätte man einen versuchten Totschlag im ersten Schritt (das Opfer überlebte schließlich) und im zweiten Schritt eine fahrlässige Tötung, da die Täterin in diesem Moment bereits dachte, dass ihr Opfer tot sei. Dieses Ergebnis wirkt erstmal verwirrend, weil das Opfer am Ende ja doch tot ist. Ich persönlich finde es auch nicht sonderlich überzeugend, da es auch gegenüber der Öffentlichkeit schwer zu rechtfertigen ist, dass obwohl das Opfer tot ist, nicht wegen vollendeter Tat verurteilt würde.  Im Ergebnis macht es letztlich jedoch ohnehin keinen Unterschied, da der versuchte Totschlag genauso hart bestraft werden kann, wie der vollendete und in einem solchen Fall wahrscheinlich auch wird. Was also die Strafe betrifft, macht es keinen Unterschied, ob man wie der Bundesgerichtshof wegen vollendeten Totschlages verurteilt oder wie bei dieser Lösung zu einem versuchten Totschlag in Tateinheit mit einer fahrlässigen Tötung kommt.

Heute geht man meist anders vor. Man stellt sich die Frage, ob die vom Täter ausgelösten Ereignisse maßgeblich von dessen Vorstellung über den Tathergang abweichen. Es wird also gefragt, ob der Irrtum des Täters erheblich ist. Dies wird die Lehre vom Irrtum über den Kausalverlauf genannt. Nach dieser Ansicht muss der Täter die Einzelheiten seiner Tat nur in Grundzügen erfassen. Ob das Opfer nun bei der Tatbegehung oder erst bei der „Beseitigung“ verstirbt, ist dem Täter in der Regel gleichgültig. Häufig wird dabei als Beispiel angeführt, dass wenn ein Täter sein Opfer von einer Brücke wirft, um es zu töten, es unerheblich ist, ob das Opfer beim Aufprall auf das Wasser oder auf den Brückenfeiler oder durch Ertrinken stirbt. Darüber macht sich ein Täter in dieser Situation meist auch keine Gedanken.

Der Bundesgerichtshof folgte dieser Auffassung und billigte deshalb die Verurteilung wegen Totschlages.

Fazit (warum das alles)

Aus diesem ziemlich einfachen Sachverhalt ergibt sich also ein relativ kompliziertes Problem. Dabei soll es nicht darum gehen, die Sache so kompliziert wie möglich zu machen – was man zuerst meinen könnte, denn die komplizierte Herangehensweise kommt zum gleichen Ergebnis wie die laienhafte Betrachtung.

Das Strafrecht wird oft „das schärfste Schwert des Staates“ genannt und als solches muss gewissenhaft damit umgegangen werden. Deshalb gibt es die Unschuldsvermutung und das Gesetzmäßigkeitsprinzip („keine Strafe ohne Gesetz“) und deshalb muss auch sehr genau geprüft werden, was ein Täter getan hat und welche Absichten er dabei hatte.


Im nächsten Artikel wird es um einen Fall gehen, der bekannter sein könnte: Um den Tiefflug eines Tornado-Kampfflugzeuges über das Demonstranten-Camp „Reddelich“ anlässlich des G8 Gipfeltreffens in Heiligendamm im Jahr 2007 – BVerwG, Urteil des 6. Senats vom 25.10.2017 – 6 C 46.16.

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